Wohnen ist ein Menschenrecht – für alle. Mit diesem Anspruch arbeitet die Wiener Sozialorganisation neunerhaus seit ihrer Gründung im Jahr 1999 daran, Wohnungslosigkeit zu beenden. Was mit einem Wohnhaus im 9. Bezirk begann, ist heute ein breites Angebot aus Wohnen, medizinischer Versorgung und individueller Beratung. Der Fokus liegt dabei immer auf Selbstbestimmung und Würde. In den Wohnhäusern, im Housing-First-Programm oder im Gesundheitszentrum werden jährlich tausende Menschen betreut – viele davon nicht versichert, armutsbetroffen, oft unsichtbar.
Wie gelingt es, in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten innovativ und wirksam zu bleiben? Und was bedeutet Führung in einer NGO? Ein Gespräch mit Ute Toifl, Aufsichtsratsvorsitzende, und Daniela Unterholzner, Co-Geschäftsführerin von neunerhaus.

Frau Toifl, Sie kommen aus der Immobilien- und Insolvenzrechtsbranche. Was hat Sie motiviert, sich im Aufsichtsrat einer Sozialorganisation zu engagieren?
Ute Toifl: 2005 war die Immobilienbranche im Aufschwung, es ging ständig um Millionen. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was passiert hier eigentlich? Ich wollte etwas tun, das mich erdet. Über einen Freund kam der Kontakt zu neunerhaus. Ich fand: Das ist eine schöne pro bono Arbeit, bei der ich etwas zurückgeben und sehen kann, was bewirkt wird. Ich habe neunerhaus rechtlich unterstützt, und irgendwann wurde ich gefragt, ob ich in den Aufsichtsrat gehen möchte. Ich habe Ja gesagt – tolle Organisation, starkes Team. Als dann die Anfrage kam, den Vorsitz zu übernehmen, hatte ich Bedenken, weil ich dann nicht mehr so nahe an der konkreten rechtlichen Arbeit wäre. Aber ich habe mich dann bewusst dafür entschieden.
Daniela Unterholzner: Seit Ute Toifl den Vorsitz übernommen hat, arbeiten auch andere Kanzleien pro bono für uns. Das zeigt, wie sehr wir uns professionalisiert haben – gerade im Bereich Compliance. Dafür ist es enorm wichtig, dass die Vorsitzende rechtliche Kompetenz mitbringt. Und ich finde, das zeigt auch gut, wie Frauen in Führungsrollen oft ticken: Viele wollen direkt beitragen. Diese Rolle bedeutet strategische und rechtliche Endverantwortung – man ist in einer prüfenden Funktion doppelt drinnen.

Frau Unterholzner, was hat Sie dazu bewogen, vom Kulturbereich in die Wohnungslosenhilfe zu wechseln?
Daniela Unterholzner: Das war auch eine Entscheidung aufgrund meiner persönlichen Geschichte. Ich komme aus einer armutsbetroffenen Familie und weiß, dass vieles in meinem Leben nur möglich war, weil es strukturelle Unterstützung gab. Ich wollte bewusst in den Sozialbereich wechseln und habe geschaut: Wer sind die innovativsten Organisationen? Und wo gibt es einen Fokus auf Frauen? neunerhaus war da ganz vorne – innovativ seit der Gründung, und mit Projekten zu Empowerment. Da habe ich gespürt: Das passt.
Sie bringen sehr unterschiedliche berufliche Hintergründe mit. Wie prägt das Ihre jeweilige Führungsrolle – und die strategische Ausrichtung von neunerhaus?
Daniela Unterholzner: Ich bin jetzt seit neun Jahren bei neunerhaus, acht davon in der Geschäftsführung. Ein Teil meines beruflichen Wegs liegt in der Wohnungslosenhilfe, ein anderer im Immobilienbereich, über unsere Tochter neunerimmo. Was mich in der Führung prägt, ist ein starker Gestaltungswille – Dinge nicht einfach hinzunehmen, sondern neu zu denken. Und da motiviert uns auch der Aufsichtsrat, mutig zu sein. Gemeinsam haben wir eine klare Strategie entwickelt: einerseits konkrete Hilfe für die einzelne Person, andererseits Veränderung auf systemischer Ebene. Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass wir auf beiden Ebenen wirksam bleiben – auch wenn die Ressourcen immer wieder knapp sind. Da braucht es Klarheit, Kreativität und Vertrauen – intern und von außen.
Ute Toifl: Genau diesen Innovationsgeist schätzen wir sehr. Bei neunerhaus gilt: Geht nicht, gibt’s nicht. Viele Projekte, die hier gestartet wurden, sind inzwischen Standard geworden. Das zeigt, dass wir wirklich etwas bewegen. Ich komme aus dem Insolvenzrecht und sehe, was es bedeutet, wenn jemand wirtschaftlich scheitert. Das kann sehr schnell zu sozialen Abstürzen führen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es Organisationen gibt, die auffangen. Für mich ist das sehr sinnstiftend, weil ich auf der einen Seite sehe, wie leicht man in Not geraten kann, und auf der anderen Seite, was Hilfe bewirken kann.
„Das Ziel ist immer, wirksam zu sein – für Einzelne und strukturell.“
Sie haben zentrale Führungsprinzipien wie Gestaltungswille und Innovationskraft angesprochen. Was unterscheidet Führungsarbeit in einer NGO konkret von jener im Profit-Bereich?
Daniela Unterholzner: Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Zielsetzung. Menschen arbeiten im Sozialbereich nicht wegen des Geldes – das bringt viel intrinsische Motivation mit sich, verlangt aber auch eine andere Art der Führung. Wir steuern mit Kennzahlen und natürlich auch mit wirtschaftlichen, aber es geht nicht um Gewinn, sondern um Wirkung. Als gemeinnütziger Verein unterliegen wir anderen rechtlichen Rahmenbedingungen. Manche Managementprinzipien ähneln sich, aber die Ausrichtung ist eine völlig andere.
Ute Toifl: Oft müssten wir Projekte aus wirtschaftlicher Sicht einstellen, aber wir entscheiden uns bewusst dagegen, weil sie sozial wichtig sind. Gerade bei niederschwelligen Angeboten sagen wir: Das braucht es, auch wenn es sich finanziell nicht rechnet. Und das unterscheidet uns ganz klar vom Profit-Bereich. Was mir auch auffällt: Die Hierarchien sind flacher. Auch wenn es Strukturen gibt, wird viel freier gearbeitet – ganz anders als in einer klassischen Kanzlei. Und es funktioniert, weil der gemeinsame Sinn so stark ist.
neunerhaus gilt in vielen Bereichen als Vorreiter. Was braucht es, um in einer sozialen Organisation immer wieder neue Wege zu gehen – gerade in Zeiten knapper Ressourcen?
Ute Toifl: Gutes Lobbying. Und viel Geduld. Wir unterschätzen oft, wie viel Arbeit es ist, bis ein Projekt verstanden, aufgenommen und gefördert wird. Im Aufsichtsrat freuen wir uns, wenn es klappt – aber der Weg dorthin ist oft lang.
Daniela Unterholzner: Dieser Weg beginnt oft mit der Entscheidung, wirtschaftlich vielleicht nicht sofort tragfähige Projekte trotzdem umzusetzen, weil wir überzeugt sind: Das ist wichtig. Dann braucht es Spendenmittel, klare Strategiegespräche – und oft ein Go des Aufsichtsrats. Wir sehen uns da als eine Art Labor: Wir testen, messen Wirkung, kommunizieren an Förderstellen und Politik. Das Ziel ist immer, wirksam zu sein – für Einzelne und strukturell.
Kommt es auch vor, dass Ideen von außen an Sie herangetragen werden?
Ute Toifl: Ja, etwa beim Chancenhaus Billrothstraße für junge Erwachsene. Da kam der Impuls vom Fördergeber – und wir wussten sofort: Das ist ein Zukunftsthema. Solche Kooperationen freuen uns besonders.
Daniela Unterholzner: Gerade bei solchen Projekten ist es entscheidend, frühzeitig im Gespräch mit den richtigen Stakeholdern zu sein – Politik, Verwaltung, Fördergeber. Innovation braucht auch das Vertrauen, dass wir wissen, was wir tun. Deshalb legen wir großen Wert auf Verständlichkeit und Transparenz – auch gegenüber der Zivilgesellschaft, die uns mit Spenden unterstützt.
„Viele Menschen haben ein falsches Bild von Wohnungslosigkeit.“
Welche Rolle spielt neunerimmo in der Umsetzung von Housing First – und warum war ihre Gründung ein so wichtiger Schritt?
Daniela Unterholzner: Wohnungslosigkeit kann nur beendet werden, wenn Menschen wieder einen eigenen Mietvertrag haben – das ist die Grundidee von Housing First. Sozialarbeiter*innen begleiten die Menschen in ihrem eigenen Zuhause. Aber wenn es keine Wohnungen gibt, ist das Konzept nicht umsetzbar. Genau deshalb wurde neunerimmo gegründet: als Brücke zwischen Sozialbereich und Immobilienwirtschaft. Zwei Welten, die oft unterschiedliche Sprachen sprechen. neunerimmo kennt beide Seiten, akquiriert leistbaren Wohnraum, mietet selbst an und gibt ihn weiter.
Ute Toifl: Anfangs waren die Vorbehalte bei Bauträgern groß: „Obdachlose in unseren Häusern?“ Wir mussten erklären, dass niemand unvorbereitet einzieht – es gibt Begleitung und Stabilisierung. Und: Es funktioniert. Wir haben 93 Prozent Mietstabilität – das beeindruckt auch Vermieter*innen.
Daniela Unterholzner: Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit so wichtig. Wir zeigen echte Geschichten – mit Zustimmung unserer Klient*innen. Viele Menschen haben ein falsches Bild von Wohnungslosigkeit. Die meisten sehen nur, wer auf der Straße lebt. Aber die größere Gruppe sind jene, die kurz davorstehen – viele von ihnen Frauen. Sie halten oft lange den Schein aufrecht, ertragen Abhängigkeit oder Gewalt, um ihre Kinder zu schützen oder weil sie keine Alternative sehen. Gerade diese versteckte Wohnungslosigkeit muss sichtbar gemacht werden. Und dafür setzen wir uns stark ein.
Wie wichtig ist Marketing für die gesellschaftliche Wirkung – und die langfristige Finanzierung einer Sozialorganisation?
Daniela Unterholzner: Marketing ist absolut zentral. Natürlich haben wir andere Ziele als ein Unternehmen mit Gewinnorientierung, aber die Logik ist vergleichbar: Wir müssen klar kommunizieren, wofür wir stehen. Es geht um Sichtbarkeit für unsere Vision – Zugänge zu Wohnen, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe. Es geht aber auch darum, Fördergebern, der Politik und nicht zuletzt den Spender*innen zu zeigen, was mit ihrem Geld passiert und dass diese Mittel dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Und auch die Kommunikation nach innen ist wichtig: Unsere Mitarbeitenden sollen verstehen, warum sie bei neunerhaus arbeiten – und sich damit identifizieren können.
Ute Toifl: Wir sind von einem kleinen Verein mit zehn Leuten auf heute fast 370 Angestellte und Ehrenamtliche angewachsen. Das hat sich mit der Zeit entwickelt, aber wir haben auch bewusst in Marketing investiert. Heute haben wir etwa mit der jährlichen Kunstauktion im MAK ein starkes öffentliches Format, das auch kunstaffine Spender*innen anspricht, die wir sonst schwer erreichen würden. Und gerade in Zeiten wie diesen ist das extrem wichtig.
Wie politisch darf – oder muss – eine NGO sein?
Ute Toifl: Wir positionieren uns nicht parteipolitisch – aber natürlich braucht es Kontakte in die Politik. Wir hoffen, dass wir mit unserer Arbeit dazu beitragen, politische Entscheidungen zu beeinflussen – etwa bei Förderstrukturen oder beim Thema leistbarer Wohnraum. Da steht uns einiges bevor. Und auch in der medizinischen Versorgung sehe ich große Herausforderungen. Was neunerhaus da aufgebaut hat – angefangen bei der Zahnarztpraxis für nichtversicherte Menschen bis hin zur medizinischen Betreuung – ist beeindruckend.
Daniela Unterholzner: Wenn wir systemisch etwas verändern wollen, ist die Politik einer unserer zentralen Partner. Es geht um Gesetze, Förderrichtlinien, Regierungsprogramme und was davon wirklich umgesetzt wird. Als NGO sind wir von diesen Rahmenbedingungen unmittelbar betroffen. Deshalb formulieren wir unsere Positionen faktenbasiert: Wir analysieren Daten, unsere Arbeit mit Klinet*innen, beobachten Trends und leiten daraus Forderungen ab. Dabei geht es nicht immer um lautstarke Öffentlichkeit – oft ist es entscheidend, an den richtigen Stellen gezielt und verständlich zu kommunizieren.
„Das Ziel ist klar: Wir wollen Wohnungslosigkeit beenden.“
Sie haben die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bereits angesprochen. Was brauchen NGOs, um wirksam bleiben zu können?
Daniela Unterholzner: Ganz klar: Geld. Wir stehen vor denselben Herausforderungen wie andere Organisationen – rechtliche Veränderungen, Digitalisierung, KI, Automatisierung. Und gleichzeitig wird das Umfeld enger. Da braucht es Effizienz, aber auch solide Governance. Wir haben in den letzten Jahren klare Strukturen aufgebaut – bei Zuständigkeiten, Kennzahlen, Steuerung. In Krisenzeiten wie Corona hat sich das bewährt. Diese Strukturen geben Stabilität, wenn es turbulent wird.
Ute Toifl: Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten war klar: Wir müssen vorausschauend planen. Wir haben im Aufsichtsrat intensiv diskutiert, wie wir unser Budget konsolidieren und gleichzeitig handlungsfähig bleiben. Das war nicht immer einfach, aber ich glaube, wir haben gute Entscheidungen getroffen. Die nächsten Jahre werden herausfordernd – aber ich bin zuversichtlich, dass wir gut aufgestellt sind, um das durchzustehen.
Und zum Abschluss: Wo sehen Sie neunerhaus in zehn Jahren? Was treibt Sie – persönlich und gemeinsam – an?
Ute Toifl: Das Ziel ist klar: Wir wollen Wohnungslosigkeit beseitigen. Im besten Fall schaffen wir uns selbst ab. Das klingt vielleicht utopisch, aber genau das treibt uns an.
Daniela Unterholzner: Das ist ein hehres Ziel – wir werden es wohl nicht erreichen. Aber wir haben in unserer Strategie ganz klar festgehalten, wofür neunerhaus steht: Zugänge schaffen für armuts- und ausgrenzungsbetroffene Menschen – bei Wohnen, Gesundheit, Teilhabe, Bildung und Arbeit. Im Besonderen für wohnungs- und obdachlose Menschen. Und ja, unser übergeordnetes Ziel ist es, Wohnungslosigkeit zu beenden. Auch wenn das in den nächsten Jahren nicht realistisch ist, bleibt es unsere Ausrichtung.
Ute Toifl: Ich glaube auch, gerade im Bereich der medizinischen Betreuung wird es schwieriger. Es gibt immer mehr nicht Versicherte in Österreich. Deshalb ist es so wichtig, dass wir hier weiter innovativ arbeiten können. Die Zahlen der zu behandelnden Menschen werden wohl weiter steigen. Und auch das Thema Wohnen wird nicht leichter. Ich sehe das täglich in meiner Arbeit im Insolvenzrecht: Die wirtschaftliche Situation ist angespannt, viele Menschen kämpfen. Das werden herausfordernde Jahre, da bin ich mir sicher.