Es waren einmal drei kleine Mädchen, von hellem Geiste und viel Talent erfüllt,
deren Leben sie auf gar unterschiedlichen Wegen in die Führungsetage brachte.
Eines, die älteste Tochter eines angesehen Anwalts, der viel zu früh seine Frau und
die Mutter der drei Kinder verlor. Eines, die einzige Prinzessin der Eltern, die alles
für sie taten und sogar manchmal lieber selbst nicht aßen, damit ihr kluges
Mädchen alle Kraft und es später einmal besser haben würde. Das dritte braucht
Liebe, wie jedes Kind, aber wuchs auf oft allein und noch öfter in Angst.
Wir alle haben eine Kindheit, Narrative, frühe Prägungen, die dafür sorgen, dass
wir werden, wie wir sind oder wie wir meinen nicht sein zu dürfen. Oft sieht man
Menschen nicht an, welche Schlachten sie in anderen Kontexten schlagen und
was für sie besonders ist. Ein Wochenende am Meer: für die Einen spontane Idee,
für Andere der unerfüllte Lebenstraum der Eltern und mit einer alten Scham
besetzt. Eine helfende Hand ohne Urteil: für die Einen ein kleiner
Freundschaftsdienst, Kollegialität, klar bleib ich länger, wenn Du mich brauchst! Für
das dritte der Kinder schwer anzunehmen, denn Nähe und Freundlichkeit waren
mit den ersten Bezugspersonen keine sicheren Erfahrungen oder zumindest an
Bedingungen geknüpft.
„Du bist so …“: Glaubenssätze als unsichtbare Leitplanken
Du bist so ein Tollpatsch/Nichtsnutz/Kontrollfreak und immer zickst Du rum.
Zuschreibungen und limitierende Glaubenssätze begleiten uns und werden
angenommen als Eigenschaften, die sich aus wiederholtem Verhalten (eigenes und
das des Umfelds) ergeben. Kriege ich oft gesagt, dass ich übertreibe oder
empfindlich bin, so kann das durchaus sein. Aber es kann auch sein, dass ich mir
Umfelder suche, in denen meine Sensibilität und Begeisterungsfähigkeit auf wenig
Gegenliebe stoßen, weil es Umfelder sind, die ich von früher schon kenne. Im
Beruf zeigt sich dies in rigiden Machtdynamiken, die besonders Frauen leicht
bespielen können und es unbewusst auch tun.
Das Entstehen von Persönlichkeit und Temperament beginnt bereits in utero, wenn
dem Embryo Einflüsse von außen signalisieren, in welche Umwelt sie oder er
später einmal geboren werden. Ist Mama jetzt schon gestresst, Toxinen
ausgesetzt, leidet Hunger oder ist schwer krank, drosselt dies auch die
Lebensenergie beim Neugeborenen. Die Anforderungen eines quirligen Babies,
das alle Bedürfnisse erfüllt haben will, sind einfach zu hoch.
Wenn Funktionieren zur Strategie wird
Wer früh nicht laut sein durfte, funktionieren musste, immer schön brav sein sollte,
wurde nicht, was sie oder er hätte werden können. Lehmschichten von
Erwartungshaltungen, Ansprüchen und auch kulturellen und gesellschaftlichen
Normen legen sich über das Selbst, wie wir einst gemeint waren. Für Eltern geht es
nicht darum, einem Kind alles zu erlauben (keine Grenzen sind auch eine Form der
Vernachlässigung), nur Beifall zu klatschen oder bei allem zu Hilfe zu eilen. Es geht
darum zu bedenken, welche andere Seite der Medaille ich gerade nicht sehe oder
fördere, wenn ich mein Kind dafür lobe, dass es so super sportlich, ehrgeizig oder
begabt in Mathe ist.
Starke Selbständigkeit opfert die Fähigkeit um Hilfe zu bitten. Lobe ich nur gute
Noten, Tore, Ergebnisse, ermuntere ich nicht, dass auch der Weg schon wichtig
und schön ist: “Learned industriousness” ist das Gegenstück zur learned
helplessness aus der Depressionsforschung. Letzteres besagt, dass Menschen
aufgeben es zu versuchen, weil die Depression die Selbstwirksamkeit verdeckt.
Learned industriousness ist die Mindset Einstellung, bei der großer Aufwand auch
große Freude macht, da die Anstrengung selbst angenehme Gefühle erzeugt, nicht
erst der Gewinn. Und ja, das ist auch später noch lernbar.
Das Nervensystem liebt Routine: Warum Muster so hartnäckig sind
Denn neurophysiologisch gibt es keinen Stillstand: Jedes Mal, wenn ich mich
entscheide (oder es mir gefühlt ”unkontrollierbar geschieht”), dass ich im Konflikt
oder bei Herausforderungen mit Rückzug (Angriff, Sturheit oder dem Öffnen einer
Flasche Wein) reagiere, lernt mein Gehirn, dass dies die “richtige” Reaktion ist.
Weil sich Gewohnheit gut anfühlt, weil Routinen sicherer sind als Neues und unser
Nervensystem für immer finden wird, dass Überleben wichtiger ist als ein
gesundes Hautbild oder eine neue Fähigkeit.
Wenn ich denke, dass ich weiß, dass ich x nicht kann, werde ich es nicht
probieren, so wie auch Perfektionistinnen ihr eigenes Spielfeld beschneiden. Denn
nur mit absoluter Exzellenz auf die Bühne zu gehen, bedeutet wahnsinnig wenige
Auftritte, während Unfertiges stets eine Chance auf Wachstum bringt. Authentizität
– der scheinbare Goldstandard als Mensch in der Welt zu sein – ist oft kortikaler
Selbstbetrug, weil wir sind, wie wir denken, sein zu sollen (und auch Denken ein
Verhalten ist und damit fehleranfällig). Es fühlt sich gut an, etwas zu bestätigen, in
Gruppen im Konsens zu sein oder eine äußere Anforderung zu erfüllen. Und es
fühlt sich auch super an, sich mal was zu gönnen, Leuten die Meinung zu sagen,
mal so richtig auf den Tisch zu hauen. Das kann unsere zweite Exekutivfunktion im
Gehirn ganz wunderbar begründen („Du hattest so eine harte Woche, klar
verdienst Du x.“)
Ich kann einem anderen Menschen nur in der Tiefe begegnen, in der ich mir selbst
schon begegnet bin. Manche Werte, die wir verteidigen, sind nurmehr biografische
Aufträge. Die Mama, die nie hat studieren dürfen und Bescheidenheit hoch hält,
sodass auch wir bei Hürden lieber Anderen den Vortritt lassen. Oder “Erst die
Arbeit, dann das Vergnügen” – klingt nach Fleiß und Disziplin, gleicht aber auch der
Aussage, dass man die Blumen bitte erst gießt, wenn sie bereits prächtig blühen.
Alles, was wir sind, hat Schatten und weiße Flecken, die sich in Selbstreflexion,
Therapie und Coaching aufdecken lassen zur Landkarte des eigenen Seins.
Warum mich etwas ärgert, ich etwas unbedingt will, ich jemandem misstraue, hat
genau so gute Gründe wie Möglichkeiten, es anders zu sehen. Bin ich lebhaft und
begeisterungsfähig, finden Manche mich zu laut. Und bin ich das eigentlich gerne
oder bin ich so quirlig, weil ich Stille nicht aushalte? Welche leiseren Anteile von
mir überspiele ich damit vielleicht? Gleichsam für die Zurückhaltenderen: Wem
sage ich Dinge lieber nicht und wie alt ist dieses Verhalten von mir? Was und auch
wen schütze ich mit meinem Schweigen? Besonders früh entstandene Prägungen
bestimmen nicht nur, wie wir sind, sondern auch, wie wir glauben, dass Andere
sind. Eine vertrauensvolle Welt- und Selbstsicht öffnet Türen, die eine ängstliche
gar nicht erst sieht.
Von der Theorie in die Praxis: Career Session mit Julia Rathjen
Zu dieser zu gelangen, ist ein freudvoller, kreativer, manchmal anstrengender
Prozess, Differenzierung und Integration von Loslassen und Annehmen.
Anwendbare Tipps, Reflexionsimpulse und Übungen zum Selberfühlen gibt es am
9. Februar um 17 Uhr in der Career Session mit Julia Rathjen.
Career Session mit Julia Rathjen: „Aus der Kinderstube in die Führungsriege“
Zur Autorin:
Julia Rathjen arbeitet in privater, traumasensibler Praxis in Berlin und online an Symptomen von Burnout und ADHS. Bei www.athinline.berlin liegt der Fokus auf Stress, Selbstzweifeln und -sabotage, unliebsamen Coping-Mechanismen und emotionaler Belastung. Sie berät außerdem Unternehmen, Verbände und Start-ups zur Frage, wie wir in uns selbst, im Team, in Arbeitsabläufen, Identität und Organisationskultur zu mehr Gesundheit und Potentialentfaltung gelangen. Für gehirngerechten Change und effiziente, radikal menschliche Führung.
Weitere Artikel aus der Serie:
Highway ins Wohlbefinden – wenn das Nervensystem zur Ressource wird