StartBusinessSuccessDie Friseurschere und der Traum vom Mond

Die Friseurschere und der Traum vom Mond

Von Sandra Gloning

Sie begann als Friseurin und entschied sich nach kurzer Zeit für einen radikalen Schnittwechsel: Carmen Köhler erfüllte sich einen Traum, studierte Mathematik und Meteorologie und verbrachte einen gefühlten Monat auf dem Mars. Eine Reisegeschichte.

Mein großer Traum war es immer, irgendwann zum Mond zu fliegen“, erklärt Dr. Carmen Köhler im Interview und ihre Augen leuchten. Mir gegenüber sitzt eine 40-jährige, junge Frau, die Mathematik studiert und einen Doktor in Physik hat und die erste Analog-Astronautin beim Österreichischen Weltraumforum war. Ihr Lebensweg ist beeindruckend und alles andere als gradlinig. Hätte sie einer jüngeren Version von sich erzählt, was sie heute alles geschafft und erreicht hat, hätte sie sich wahrscheinlich selbst nicht geglaubt.

Mut und Zuspruch

„Nach dem Abitur habe ich eine Friseurlehre gemacht. Mein langfristiger Plan war es, Maskenbildnerin zu werden. Meine Eltern haben beide kein Studium absolviert, ein Studium war auch nichts, was ich zwingend anstrebte oder von meiner Familie erwartet wurde. Ich war eine sehr schüchterne Schülerin, die im Unterricht nicht viel sagte. Zumindest nicht zu den Lehrern. Mich interessierte Mathe zwar sehr, aber ich glaubte nicht, dass dies reichen würde, um beruflich damit etwas machen zu können.“

Carmen Köhler schätzte bereits während der Schulzeit die Geradlinigkeit der Mathematik: „Sie ist logisch und liefert klare Ergebnisse. Es gibt nur richtig oder falsch.“ Während sie darüber spricht, strahlen ihre Augen – und sie lacht. Bis sich ihr Weg allerdings in diese Richtung drehte, dauerte es eine Weile. Sie beendete ihre Friseurlehre und schnitt regelmäßig einem Professor die Haare. Im Zuge des üblichen Friseur-Small Talks erkannte dieser Carmen Köhlers Liebe zur Mathematik und gab ihr einen Leitsatz mit auf den Weg, den sie auch im Interview immer wieder erwähnt: „Wenn man Leidenschaft für etwas hat und das gerne macht, dann ist man auch gut darin.“

Fünf Uhr morgens

Dieser Professor ist eine wichtige Schlüsselperson in ihrem Leben. Überhaupt gab es mehrere solcher Menschen, die ihr einen kleinen Schups in eine gewisse Richtung gaben. „Ich habe super Freundinnen und Freunde, mit denen ich über meine Ideen sprechen konnte. Ich bin niemand, der große Entscheidungen oder Ideen nur mit sich selbst ausmacht. Man darf sich das aber auch nicht so vorstellen, dass ich bewusst jemanden anrief, um über meine Zukunft zu sprechen. Ganz häufig ergaben sich solche Gespräche einfach. Als ich beschloss, Mathe zu studieren, saß ich um fünf Uhr morgens mit einem Bier in einer Bar und besprach das mit einer Freundin durch.“

Kehrtwende 

2002 begann Carmen Köhler ihr Mathematikstudium, nahm noch das Nebenfach Meteorologie auf und promovierte 2012 in Physik der Atmosphäre. Es dauerte nur drei Jahre, bis sie sich einen weiteren Traum erfüllte: „Ich war vor Jahren mal bei einem Freund zu Besuch, bei dem die ‚Flug-Revue‘ herumlag, in der ich einen Artikel über Cape Canaveral las. Seither war ich fasziniert von der Raumfahrt und das war dann auch der Grund, wieso ich mich für Meteorologie einschrieb. Denn für die Raumfahrt ist eine gute Wettervorhersage extrem wichtig! Seit ich ein Kind bin, träume ich davon, Astronautin zu werden. Als ich dann erfuhr, dass das Österreichische Weltraumforum Analog-Astronauten suchte, meldete ich mich dort sofort an.“ Und sie hatte Glück. Carmen Köhler wurde 2015 die erste weibliche Analog-Astronautin des Österreichischen Weltraumforums und startete dort ihr Training.

Für den Ernstfall üben

Doch was heißt das konkret? Und was macht eine Analog-Astronautin? „In Innsbruck gibt
es das Österreichische Weltraumforum, das international und in der Raumfahrt-Analog-Forschung sehr angesehen ist. Analog-Astronauten sind Personen, die auf der Erde bleiben und hier Forschung für spätere astronautische Raumfahrtmissionen betreiben. Ich arbeitete an einer Mars-Simulation mit. Diese Art der Forschung wird als Vorbereitung vor jeder Mission gemacht, auch von den Astronauten selbst, die dann ins All fliegen. Es gibt zum Beispiel sehr lustige Bilder, die vor der ersten Mond-Landung entstanden sind. Diese zeigen Astronauten in voller Montur mit Helm und Anzug, die versuchen, in verschiedene Böden die amerikanische Flagge zu rammen. Man wusste ja im Vorhinein nicht, wie der Boden des Mondes beschaffen sein würde. Also wurden verschiedene Tests durchgeführt.“

Der Mars im Oman

Die Grundausbildung als Analog-Astronautin bestand aus fünf Wochenenden voller Tests und Prüfungen, danach folgten die Vorbereitungen für Missionen und regelmäßige Operationen. Carmen verbrachte beispielsweise 2018 einen Monat im Oman bei einer Mars-Simulation, wo sie sehr autonom arbeitete und nur zwischen fünf und sechs Stunden am Tag schlief. Ihre Tätigkeit beim Österreichischen Weltraumforum ist komplett ehrenamtlich. Zusätzlich betreute sie bis 2019 auch ein Projekt in Westafrika, bei dem das Ziel war, StudentInnen mit Programmierprojekten als MultiplikatorInnen auszubilden.

Diese ganzen Verpflichtungen zusätzlich zu ihrem damaligen Hauptberuf in der Meteorologie waren der Grund, wieso sie die Selbständigkeit in Erwägung zog und ihr eigenes Unternehmen P3R gründete. P3R ist auf Atmosphärenphysik und Satellitenbeobachtungen im Zusammenhang mit Wetterapplikationen spezialisiert. „Ich bin der Meinung, die Straße, auf der man heute festgefahren ist, ist morgen auch noch befahrbar. Also überlegte ich mir vor meiner Unternehmensgründung: Was ist der Worst Case? Hätte das mit meinem Unternehmen nicht geklappt und wäre es schiefgegangen, dann hätte ich wahrscheinlich die 300 Euro für die Anmeldung und einen Gang zum Juristen verloren und hätte mir wieder einen Job gesucht. Ich bin ja immer noch Mathematikerin und Physikerin und im Notfall auch Friseurin. Aber der Best Case ist, dass ich ein erfüllteres Leben habe und mich weiterentwickeln kann. Ich glaube, es gibt für jeden Wunsch ein Zeitfenster, in dem sich die Möglichkeit bietet, diesen zu realisieren. Manchmal oder sehr oft muss man dafür die Komfortzone verlassen, in der man gerne aus Angst bleibt. Aber was, wenn das Beste in deinem Leben noch vor dir liegt?“

Der größte Wunsch

Einen großen Wunsch hat Carmen noch, den sie sich bisher noch nicht erfüllen konnte. Sie will zum Mond. Sie will ins Weltall fliegen. Sie will Astronautin werden. Als 2017 in Deutschland das erste Mal seit 2008 eine Stelle für Astronautinnen ausgeschrieben wurde,
glaubte sie, dies könnte ein Zeichen sein. Ihre Chance. Doch obwohl sie in die engere Auswahl kam, wurde sie am Ende nicht ausgewählt. Ein herber Rückschlag. „Eigentlich bin ich der Meinung, wenn eine Tür für dich zugeht, dann war es nicht deine Tür. Also nimm eine der anderen zehn Türen und schau dir an, was dahinter zu finden ist. In diesem Fall war ich aber sehr enttäuscht und habe eine Woche lang jedes Mal geweint, wenn ich den Mond gesehen habe. Dann reflektierte ich für mich, warum das mein großer Traum war. Einerseits liebe ich das Abenteuer und verlasse gerne meine Komfortzone, das war einer der Gründe. Aber der andere Grund war, dass ich junge Frauen und Mädchen begeistern und ihnen zeigen wollte, dass sie das auch können. Ich wollte ein Vorbild sein. Dann hat sich für mich die Möglichkeit ergeben, beim Projekt ‚Die Astronautin‘ als Astronautinnen-Support dabei zu sein. Inzwischen leite ich das Bildungsprojekt, wo es besonders darum
geht, junge Frauen und Mädchen zu fördern. Damit erreiche ich genau dieses Ziel. Es ist ein anderer Weg, aber das Ergebnis ist dasselbe.“

Mit Leidenschaft

Diese Vorbildfunktion für eine bessere Welt ist auch das, was ihr Team antreibt. Mit meteorologischen Daten arbeiten sie daran, Vorhersagen für erneuerbare Energien zu entwickeln, Waldbrände oder Überflutungen zu erkennen und zu analysieren – oder andere Wettergeschehen anhand von Satellitendaten zu beobachten. Bei ihrer Arbeit denkt Carmen Köhler an die Erlebnisse, die Personen im All machen: „Als Astronautin im Weltall bekommt man einen ganz anderen Überblick über die Erde. Man sieht, wie grün sie ist, wie fragil die Atmosphäre ist, es gibt von dort oben keine Grenzen. Es gibt keinen Planet B. Im Weltall herrscht ein großes Nichts, die Erde ist der einzige Planet mit Leben. Durch die Satellitenbilder, mit denen wir arbeiten, sehen wir, wie fragil unser Planet ist. Und wir arbeiten daran, Verfahren zu entwickeln, um auf ihn aufzupassen.“ Und da tauchen wieder das Strahlen und die leuchtenden Augen der Begeisterung auf, während sie über die Erde spricht. Was man gerne und mit Leidenschaft macht, macht man offensichtlich auch gut.

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