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Sind wir faul geworden, Frau Kugel?

Fachkräftemangel, Digitalisierung und Qualifkations-Gap – der deutschen Wirtschaft stehen unruhige Zeiten bevor. Ein Gespräch mit Aufsichtsrätin Janina Kugel über neue Arbeit, altes Denken – und warum wir endlich wieder hungrig auf Erfolg sein sollten.

Wer in diesem Sommer in den Alpen unterwegs ist, muss damit rechnen, dass eine der einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft entweder auf dem Gravelbike oder in Wanderschuhen zügig vorbeizieht. Janina Kugel ist immer in Bewegung – nicht nur privat, sondern vor allem beruflich. Als ehemalige Personalvorständin von Siemens war sie für mehr als 350.000 Mitarbeitende auf der ganzen Welt verantwortlich, galt als Mega-Star der HR-Branche und als kluge, unbequeme Stimme, die den Wandel der Arbeitswelt nicht nur begleitet, sondern aktiv mitgestaltet hat. Heute berät die Mutter von Zwillingen die Boston Consulting Group, schreibt Bücher und ist Aufsichtsrätin in mehreren internationalen Unternehmen. Im Interview sprechen wir mit ihr über wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen, die Skills der Zukunft und warum Druck und Brüche manchmal neue Türen öffnen.

Frau Kugel, die Wirtschaft ist im Umbruch, der Arbeitsmarkt unter Druck, was sehen Sie, wenn Sie heute auf Deutschland blicken?

Wir befinden uns an einem Scheideweg. Die größte Gefahr für Unternehmen – und letztlich auch für unsere Gesellschaft – ist, wenn man zu lange zu erfolgreich war. Dann sinken die Veränderungsbereitschaft und der Hunger auf Erfolg. Das sehe ich auch hierzulande: Wir leben in großem Wohlstand und wollen ihn bewahren – aber mit weniger Aufwand.

Sie meinen, wir sind faul geworden?

Faul nicht, dieser Begriff geht an der Realität vorbei, denn die deutschen Arbeitnehmer*innen machen sogar sehr viele Überstunden. Wir halten uns jedoch immer noch für eine der am besten ausgebildeten Nationen mit den weltbesten Innovationen. Die Realität sieht jedoch anders aus: In vielen Bereichen ist Deutschland im globalen Wettbewerb längst kein Vorreiter mehr. Das zeigt sich auch an der internationalen Produkt palette. Fakt ist aber: Wir können unseren Wohlstand nur halten, wenn wir die Produktivität massiv steigern – nicht zwangsläufig durch mehr Arbeitszeit, sondern durch Digitalisierung, Automatisierung und KI.

Der Mangel an Arbeitskräften verhindert unter anderem, dass die Wirtschaft wieder wächst. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) meldete kürzlich, dass Betriebe für 1,4 Millionen Jobs keine passenden Bewerber*innen finden. Was muss geschehen?

Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ist ein großer Hebel. In Deutschland liegt die Erwerbstätigenquote von Frauen mit knapp 78 Prozent im europäischen Spitzenfeld. Doch fast die Hälfte der 20- bis 64-Jährigen sind in Teilzeit beschäftigt. Nur in den Niederlanden, in der Schweiz und Österreich arbeiten noch mehr Frauen in Teilzeit. Wir müssen Bedingungen schaffen, die es Menschen ermöglichen, zu arbeiten – auch mit Familie, Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen. Und wir müssen Sorgearbeit gerechter verteilen. Und zwar nicht nur aus Gründen der Gleichberechtigung, sondern auch, weil wir angesichts der demografischen Entwicklung jede Arbeitskraft brauchen. Es reicht nicht aus, dass Paare sich darüber einigen, sondern auch steuerliche Anreize wie das Ehegattensplitting und Minijobs müssen reformiert werden.

Heimspiel: sheconomy Chefredakteurin Lara Gonschorowski (l.) und Autorin Sinah Hoffmann (r.) trafen sich mit Janina Kugel zum Interview und Shooting in München

Die Wirtschaft kann nicht auf arbeitende Frauen verzichten. Gleichzeitig erleben wir eine Retraditionalisierung weiblicher Rollenbilder. Wie passt das zusammen?

Ein solcher gesellschaftlicher Backlash ist kein neues Phänomen – wir haben ihn beim Frauenwahlrecht gesehen oder bei der Aufhebung der Rassentrennung in den USA. Auch heute, in Krisenzeiten, erleben wir das wieder: Populistische und konservative Parteien zeichnen ein Idealbild der Vergangenheit, das so nie existierte. Hinzu kommt: Viele nehmen wahr, dass Themen wie Feminismus oder queere Rechte viel Raum bekommen haben – und fühlen sich, insbeson dere als heterosexueller Mann, plötzlich übersehen oder nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zukunft lässt sich aber nicht gestalten, wenn wir an allem festhalten, was wir aus der Vergangenheit schätzen. Und vor allem wir Frauen dürfen nicht zulassen, dass wir wieder eine Rolle rückwärts machen. Veränderung bedeutet auch Zumutung – und das muss von der Politik klar benannt werden.

Wo wünschen Sie sich mehr Ehrlichkeit?

Zum Beispiel beim Thema Migration. Wir müssen uns klar als ein Land definieren, das gezielte Einwanderung in den Arbeitsmarkt braucht. Expert*innen haben errechnet, dass jährlich etwa 400.000 bis 500.000 Menschen aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt kommen müssen, um die Arbeitskräftelücke zu füllen. Der öffentliche Diskurs dreht sich aber fast ausschließlich um illegale Migration und Flucht. Das ist nicht zielführend und verstärkt Rassismus und Ausgrenzung. Übrigens auch für deutsche Staatsbürger*innen, die nicht weiß sind. Die Zunahme rechtsextremer Straftaten ist nicht zu übersehen.

Früher wurden Frauennetzwerke in den Konzernen als „Kaffeeklatschrunden“ bezeichnet. Darüber kann Janina Kugel heute lachen

Sie sind Mitglied der Kommission „Welt im Umbruch“ unter dem Vorsitz der ehemaligen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Inwiefern spielt das Thema Migration im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt dort eine Rolle?

Die Kommission hat sich mit der Frage beschäftigt, wie Deutschland, oder auch Europa, künftig mit dem sogenannten Globalen Süden zusammenarbeiten will – in der Geo-, Klima- und Entwicklungspolitik, aber auch zu den Themen Ökonomie und Handel. Dabei ging es vor allem darum, tradierte Bilder zu hinterfragen, neue Brücken zu bauen und vor allem Partnerschaften auf Augenhöhe zu knüpfen. Was im Zuge unserer Arbeit zum Beispiel deutlich wurde: Deutschland wirbt aktiv um Investitionen im Ausland, aber zu wenig um internationale Fachkräfte.

Wie könnte man das ganz konkret ändern?

Wir empfehlen unter anderem einen sogenannten Talent Fund. Um Fachkräfte erfolgreich anzuwerben, braucht es mehr als nur ein Jobangebot. Zwischen Herkunftsland und Deutschland muss ein funktionierendes Ökosystem entstehen – mit Akteur*innen, die sich um Sprachkurse, Behördenwege, Wohnungssuche und Schulzugang kümmern. Aktuell lassen wir Zuwandernde damit allein. Das ist unklug. Denn: Wir stehen in einem harten Wettbewerb – vor allem mit englischsprachigen Ländern.

Solche Maßnahmen kosten viel Geld …

Es ist eine Investition, die sich lohnt. Unsere Berechnungen zeigen: Innerhalb kürzester Zeit entsteht ein Nettofiskaleffekt. Das heißt: Die Person zahlt mehr in unser Steuer- und Sozialsystem ein, als sie kostet. Ein Beispiel: Eine Investition von 15.000 Euro in eine 25 Jahre alte Fachkraft mit einem jährlichen Bruttoge halt von 55.000 Euro würde sich bereits nach knapp sieben Monaten selbst finanzieren. Diese Zahlensprechen eine klare Sprache. Was wir jetzt brauchen, ist ein Perspektivwechsel in unserem Denken und den Mut, diese Dinge anzugehen. Das geht natürlich nur, wenn auch die Notwendigkeit der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt öffentlich so diskutiert wird.

Auf die Frage, warum sie sich so oft in der „Mädchenfarbe“ Rosa zeige, antwortet Janina Kugel: „Wahre Feministinnen können alles tragen.“

Neben Stellen, die nicht besetzt werden können, steht der Arbeitsmarkt vor einer weiteren großen Herausforderung. Eine neue Studie des Weltwirtschaftsforums zeigt: bis 2030 müssen sich die Hälfte der Beschäftigten weiterbilden, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Droht uns bald ein Qualifikations-Gap?

Das kommt darauf an, wie zügig wir uns neu aufstellen. KI und Automatisierungen werden viele Jobs überflüssig machen, aber auch neue entstehen lassen – und zwar in allen Branchen. Ein Beispiel sind die Self-Checkout-Kassen im Supermarkt. Man braucht dann statt drei Kassier*innen, nur noch eine*n. Diese Person muss aber komplexere Aufgaben lösen. Auch viele administrative Tätigkeiten in den Büros können automatisiert werden. Das heißt, wir müssen grundlegend neu denken, wie wir Qualifizierung organisieren. Ein paar Stunden Weiterbildung pro Woche reichen nicht – echte Weiterentwicklung braucht Phasen des gezielten Ausstiegs aus dem Job-Alltag. Dafür müssen zum Beispiel finanzielle Übergänge geschaffen werden.

Gerade kleine und mittlere Unternehmen haben oft weder Infrastruktur noch Mittel für umfassende Weiterbildung …

Deshalb braucht es Partnerschaften – etwa über Handelskammern und Verbände – und geteilte Lernangebote. Unternehmen müssen sich öffnen, damit auch Mitarbeitende anderer Betriebe profitieren können. Es geht darum, nicht isoliert, sondern im Verbund zu denken.

Der Wandel ist tiefgreifend und betrifft uns alle. Wie schaffen wir es, positiv in die Zukunft zu schauen?

Auch da hilft es wieder, die eigene Perspektive zu verändern. Viele Menschen verharren in Jobs, die sie nicht mögen – aus Angst vor dem Neuanfang. Oft braucht es erst Druck oder einen Bruch, damit sie sich neu orientieren. Der erste Jobwechsel ist schwer, aber beim fünften weiß man – Veränderung bringt  auch Chancen.

FotomaterialEILEEN JORDAN

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