StartBusinessESG: Drei Buchstaben, tausend Fragen

ESG: Drei Buchstaben, tausend Fragen

Neue ESG-Reporting-Standards verpflichten große Unternehmen, ihren ökologischen und gesellschaftlichen Fußabdruck zu messen. KMUs sollen folgen. Was bringen neue Regulationen unter dem ESG-Mantel, und wie können sich Unternehmen vorbereiten?

Seit Anfang des Jahres ist es offiziell: Konkrete Nachhaltigkeitskriterien unter dem Schirm der drei Buchstaben E(nvironmental), S(ocial) und G(overnance) müssen von großen Unternehmen EU-weit erfasst und ausgewiesen werden. Dazu zählen etwa Treibhausgasemissionen, Energieverbrauch, Gesundheits- und Arbeitsschutz oder die Vorstandsvielfalt und -struktur: Von einem ökosozialen Gegengewicht zur rein wirtschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung ist die Rede.

Dass bald auch KMUs ab einer gewissen Größe erfasst werden, malt Fragezeichen ins Gesicht vieler Unternehmer:innen. Noch ist den meisten nicht ganz klar, was auf sie zukommt: Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, wo greifen die neuen Nachhaltigkeitskriterien möglicherweise zu kurz? Was davon kann man in Eigenregie umsetzen und wo sollte externe Hilfe geholt werden?

Aktionismus versus Hebelwirkung

Alice Schmidt ist als international anerkannte Nachhaltigkeitsexpertin für die Europäische Kommission tätig. Sie ist Lektorin an der Wirtschaftsuniversität Wien und Autorin des Buches The Sustainability Puzzle (Eigenverlag). Schmidt ist bekannt dafür, in Systemen zu denken und keine zu einfachen Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Die neuen ESG-Richtlinien sieht sie ambivalent: „Es ist wahnsinnig wichtig, dass wir unseren sozialen und ökologischen Fußabdruck messen und dass es dafür auch Regeln gibt, an die sich alle halten müssen. Derzeit gibt es viele Unternehmen, die es gut meinen und sich bemühen.

Wir brauchen eine CO2-Steuer und eine vernünftige Umverteilung.

Alice Schmidt,
Nachhaltigkeitsexpertin, Autorin

 

Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht, und oft gehen tausend kleine Maßnahmen an den wirklich großen Hebeln meilenweit vorbei.“ Diese großen Hebel seien laut Schmidt fossile Energieträger, die im momentanen System stark subventioniert statt besteuert werden.

Einweg ist kein Weg

In einigen Bereichen greifen die ESG-Kriterien für Schmidt zu kurz – oder sind von ihnen gar nicht betroffen. So werde etwa viel zu wenig Wert auf wirklich nachhaltige Geschäftsmodelle wie Kreislaufwirtschaft gelegt, die eine systematische Neubewertung vieler Prozesse, Produkte und Dienstleistungen erfordern. „Wir müssen ‚mieten statt kaufen‘ attraktiver machen und auf qualitativ hochwertige Produkte mit langem Lebenszyklus setzen: vom Auto bis zur Waschmaschine. Recycling ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluss“, sagt Schmidt.

Weiters müsste der CO2-Preis zehn- bis zwanzigmal höher angesetzt werden, um die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten abzubilden und Unternehmen zu echter Nachhaltigkeit zu bewegen. Dass Produkte für die Konsument:innen dadurch extrem verteuert würden und vor allem untere Einkommensschichten betroffen wären, will Schmidt nicht gelten lassen: „Wir brauchen eine vernünftige Umverteilung, und diese wird unter anderem durch eine hohe CO2-Steuer ermöglicht.“ Schmidt sieht auch die Abwanderung großer Unternehmen in Steueroasen kritisch: „Hier geht dem Staat extrem viel Geld verloren, das in die Umverteilung investiert werden sollte.“

ESG außerhalb der EU

ESG-Kriterien werden auch Firmen aus nicht-europäischen Ländern betreffen, sofern diese eine Niederlassung in der EU haben und eine gewisse Größe erreichen. Wird das auch zum Umdenken in Ländern wie China führen, die sich zurzeit die Hauptverantwortung für die Nachhaltigkeit noch im Westen sehen? „China hat schon lange massive, spürbare Umweltprobleme“, sagt Schmidt.

Gleichzeitig ist China der größte Exporteur erneuerbarer Technologien und möchte 2060 klimaneutral sein. Man wisse aber, wie wenig transparent Messungen und Reportings in streng hierarchischen Systemen und Autokratien wie China ablaufen, sagt Schmidt. Daher werde es wohl nur aus zwei Gründen eine echte Änderung geben: Entweder noch stärkeren Druck aus der eigenen Bevölkerung oder weltweit fehlende alternative Absatzmärkte.

„ESG ist wie die DSGVO“

Tina Deutsch ist Co-Founderin von Klaiton, einer Wiener Online-Plattform, die Berater:innen an Organisationen vermittelt. Bei Klaiton ist sie verantwortlich für sogenannte Green Projects, also das Begleiten von Unternehmen auf ihrem Weg zu nachhaltigerem Wirtschaften. Deutsch sieht in den ESG-Kriterien eine Chance.

Neue Lösungen wie die EU-Taxonomie, ein Regelwerk, bei dem die Neuausrichtung der Kapitalströme hin zu nachhaltigen Lösungen eine Schlüsselrolle spielt, seien ein bisschen so wie die Einführung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vor einigen Jahren: „Alle gerieten inPanik wegen eines bestimmten Stichtags. Die Umsetzung der Verordnung verlief anfänglich sehr bürokratisch und war in Teilbereichen sicher überreglementiert. Aber: Es hat uns zu einem Umdenken betreffend unserer Daten und Privatsphäre gebracht. Das kann auch ESG schaffen.Das Beste wäre, Nachhaltigkeitsbestrebungen schnell zu integrieren und in die Kernstrategie einzubauen.“

 

Du kannst Business und Nachhaltigkeit nicht mehr voneinander getrennt denken, wenn du Erfolg haben willst.

Tina Deutsch,
CO-Founderin Klaiton, Nachhaltigkeitsberaterin

 

Wo Unternehmen beginnen sollten Deutsch gibt konkrete Tipps, wie man am besten ins Tun kommt: Entscheider:innen sollten Weiterbildungen für betriebliche Nachhaltigkeit belegen. „Man muss Fachterminologie und Branchenbenchmarks kennen, um mitreden zu können.“ Der nächste entscheidende Schritt sei es, die Prozesse end-to-end zu denken. „Beim eigenen Unternehmen ist ja noch lange nicht Schluss; einen wirksamen Hebel entwickle ich, wenn ich mir zum Beispiel ansehe, wie nachhaltig meine Lieferant:innen und Dienstleister:innen arbeiten.“ Das Lieferkettengesetz in Deutschland gibt hier eine Richtung vor: Die neue ESG-Verordnung umfasst bald auch sogenannte Scope-3-Emissionen, welche die Treibhausgasemissionen entlang der Wertschöpfungskette des Unternehmens beschreiben – und damit auch das klimaschädliche Verhalten von Lieferant:innen.

Deutsch rät außerdem dazu, die neuen Reportingstandards nicht nur einmal im Jahr anzuwenden, sondern ins tägliche Business einfließen zu lassen. Das Thema Nachhaltigkeit sollte sich also – wie bisher die Profitabilität – regelmäßig als Kennzahl niederschlagen, die etwa in Besprechungen thematisiert wird: „Es muss sich de facto die Art und Weise ändern, wie und was ich messe, belohne und worüber ich in Teammeetings spreche“, sagt Deutsch.

Auch die Kleinen müssen liefern

Einer dieser wachenden, kritischen Geister ist Ruth Moss, Marketingleiterin des Lösungsanbieters CRIF. Moss hat im April 2022 die ESG-Transparenz-Initiative „Jetzt Tun“ ins Leben gerufen. Gemeinsam mit dem Handelsverband und anderen Interessenvertretungen tritt sie dafür ein, dass sich Unternehmen so schnell wie möglich mit den neuen Regularien befassen und darüber austauschen: „Auch KMUs werden schneller gefordert sein, als sie es erwarten“, sagt Moss. „Wenn ich erst anfange, mich vorzubereiten, wenn es nötig ist, dann ist es zu spät.“

Moss pflichtet Tina Deutsch und ihrem Plädoyer für eine nachhaltige Wertschöpfungskette bei: „Die großen, berichtspflichtigen Unternehmen müssen alle ihre Lieferant:innen in ihrer Nachhaltigkeit evaluieren. Wer keine Reports vorweisen kann, riskiert die Geschäftspartnerschaft.“

Wir müssen jetzt beginnen, unsere Nachhaltigkeit zu messen. Nur so können wir uns verbessern.

Ruth Moss,
Initiatorin von Jetzt Tun

 

Die größte Angst der Unternehmen seien laut Moss der interne administrative Aufwand sowie schlechtes Abschneiden im ersten Status-Check: „Wir müssen jetzt beginnen, relevante, quantifizierbare Daten zu erheben. Das Ziel ist ja, auf lange Sicht sozial und umweltverträglicher zu wirtschaften. Wir können uns aber nicht verbessern, wenn wir nicht wissen, wo wir begonnen haben. Dass die Unternehmen heute noch nicht so gut dastehen, ist klar. Es ist vergleichbar mit dem Abnehmen: Wenn ich mich nicht wohlfühle, stelle ich mich nicht auf die Waage. Noch länger zu warten, können wir uns aber nicht erlauben, wir müssen jetzt loslegen“, sagt Moss.

Hilfe von Expert:innen

Wer sich von alledem (noch) überfordert fühlt, befindet sich in guter Gesellschaft. Mittlerweile gibt es allerdings eine Vielzahl an Profis auf dem Markt, die Hilfestellung leisten – angefangen bei Nachhaltigkeitsbildung für Unternehmen über Erhebung, Monitoring und Auswertung von Energieverbrauchsdaten oder frei zugängliche ESG-Prüftools.

Die Komplexität der Nachhaltigkeitsthematik vergleicht die Beraterin Tina Deutsch mit der ersten Phase der Digitalisierung. Während man anfangs dachte, es würde völlig reichen, einen Chief Digital Officer irgendwo hinzusetzen, wurde bald klar: Die Strategieabteilung und die Digitalisierungsabteilung dürfen nicht getrennt voneinander arbeiten. Mit der Nachhaltigkeit sei es nun ähnlich, sagt Deutsch: „Das ist ein Blockbuster-Thema. Du kannst Business und Nachhaltigkeit nicht mehr voneinander getrennt denken, wenn du Erfolg haben willst.“


Praktische Tipps für nachhaltige Unternehmensgestaltung von Tina Deutsch finden Sie hier: 

10 konkrete Tipps für mehr betriebliche Nachhaltigkeit

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