Als Kind habe ich oft einen Handstand gemacht. Wobei der Name irreführend ist, denn es war eigentlich ein Kopfstand, den ich üben wollte. Die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten, war ein Gedanke, der mir schon damals gefiel.
Zwischenzeitlich hat sich die Welt sehr verändert – neben Meetings, den Sozialen Medien und all den Optionen, die das Internet bereithält, bleibt wenig Zeit für solch banale Dinge wie ein Kopfstand. Dabei wäre es an der Zeit, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir in Zukunft leben und arbeiten wollen – schließlich leben wir so lange, wie keine Generation vor uns.
Neue Kultur und neue Form von Arbeit
Werden wir mit Ende 70 noch acht bis neun Stunden vor unseren Laptops sitzen? Gehen wir in 15 Jahren immer noch pünktlich um 12 Uhr in die Kantine? Gibt es nur veganes Essen oder doch Insektenburger? Arbeiten wir nur noch vier Tage oder wir die Aufteilung im 5/2 Arbeitszeit-Modell obsolet sein?
John Maynard Keynes prognostizierte für 2030 eine Wochenarbeitszeit von 15 Stunden. In vielen Prognosen lag Keynes bereits richtig. So auch im Falle des über Dekaden andauernde Wirtschaftswachstum indiziert durch den technologischen Fortschritt und die Übernahme von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen.
Keynes betonte immer wieder die großen Möglichkeiten, die durch die Reduktion der Arbeitszeit entstünden. Die Herausforderung läge seiner Ansicht nach darin, diese freie Zeit sinnvoll zu gestalten. Nun haben wir keine Glaskugel, um in die Zukunft zu blicken, können aber durchaus kontrovers darüber nachdenken. Vielleicht könnten wir dann die Möglichkeiten sehen und die Veränderungen begrüßen, die dieses Gedankenexperiment mit sich zieht.
Konstruktive Spannungen als Quelle innovativer Lösungen
Wir sehen schon jetzt, dass sich die Arbeitswelt grundlegend verändert und das nicht erst seit ChatGPT. Lebens- und Arbeitsbereiche verschmelzen – Integration, statt strikter Trennung. Ein Beispiel, das sich auch auf unsere Gesellschaft und das tägliche Miteinander übertragen lässt. Anstatt gleich und gleich zu fördern und das sogenannte Thomas-Prinzip zu stärken – das eine immer gleiche Rollenverteilung und Nachbesetzung insbesondere von Führungspositionen zum Ausdruck bringt, sollten wir vielmehr auch in diesem Bereich auf Integration und Gemeinschaftlichkeit setzen.
Wir müssen Vielfältigkeit und Heterogenität nutzen, um Neues zu kreieren – und diese Gestaltungsmöglichkeit auch als solche erkennen
Denn klar ist: angesichts der Multikomplexität in unserer aktuellen Gegenwart, wird ein Weiterso immer unmöglicher. Mit diesem Wissen kann ein Verharren in alten Mustern keine Lösung sein. Viel mehr müssen wir die Vielfältigkeit und Heterogenität nutzen, um Neues zu kreieren – und diese Gestaltungsmöglichkeit auch als solche erkennen.
Konstruktive Spannungen aufgrund unterschiedliche Sichtweisen gilt es nicht zu vermeiden, sondern sie als Quelle innovativer Lösungen zu verstehen. Verharren wir in unserer Bubble, sind wir Gefangene unseres eigenen Unconscious Bias. Und wenn wir die Dinge immer nur am eigenen Maßstab messen, mag das verlockend und bequem sein, beschränkt unseren Horizont aber auch ganz schön. Schaffen wir es im kollektiven Zusammentreffen dem ersten Impuls und der egozentrischen Wahrnehmung „ich würde das alles ganz anders machen“ zu widerstehen und erlauben uns stattdessen verschiedenste Blickwinkel, können wir alle als Gemeinschaft davon profitieren. Denn individuelle Lebenshintergründe führen zu ungewöhnlichen Einsichten und Ergebnissen.
Rückbesinnung statt Rückzug
Nur durch das Vorhandensein und Zulassen von unterschiedlichen Perspektiven, wird Innovation möglich sein. Die ganze Kraft liegt in der Heterogenität. Unterschiedlichkeit bedeutet Brücken zu bauen. Zwischen den Generationen, der Lebens- und Arbeitswelt und zwischen Politik und Gesellschaft. Wir dürfen den konstruktiven Diskurs nicht scheuen und uns öfters mal aus unserer Cozy Bubble herauswagen. Rückbesinnung, statt Rückzug von allem, was anders als gewohnt erscheint.
Früher war nicht alles besser und auch in Zukunft wird nicht alles schlechter. Ungewissheit kann Angst machen, deshalb darf eine Portion Mut nicht fehlen. Und eine Mentalität, die das Ausprobieren wieder in den Vordergrund rückt. Ich wusste damals nicht, ob ich einen Kopfstand schaffen würde oder nicht. Ich habe es einfach gemacht.
Über die Autorin
Julia Heinz ist Volkswirtin, Kommunikationsexpertin und Gründerin der Strategieberatung communique. Sie berät Unternehmen, Personen und NGOs hinsichtlich ihrer strategischen Positionierung, relevanter Zielgruppenanalyse und der ganzheitlichen Kommunikation. Mit ihrem wertebasierten Ansatz baut sie Brücken und setzt nachhaltige Impulse, um Haltung medienübergreifend sichtbar zu machen.
Zudem setzt sie sich für mehr Diversität ein und spricht u.a. auf den Medientagen München darüber, wie Meinungen mit Bildern beeinflusst werden und welche gesellschaftliche Verantwortung wir alle tragen.